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Alles im Blick

Einmal in der Woche treffen sich Mutter und Tochter zum späten Frühstück im Café an der Ecke. Von ihrem Stammplatz am Fenster blicken sie auf Straße, Gehwege und einige Geschäfte. Sie schlürfen Milchkaffee und stopfen Törtchen in sich hinein. Währenddessen glotzen sie durch die Scheibe und beobachten das Geschehen. Sporadisch und unvermittelt unterbrechen sie ihr Dauergespräch durch Kommentare: „Sieh mal, unser Nachbar! Der geht auch schon wieder Kaffee trinken.“ Oder: „Die Verkäuferinnen da drüben müssen sich ja langweilen!“ – Jeder Passant wird kritisch beäugt. Wer skurril auffällt oder ein Bekannter ist, verdient eine Bemerkung. Manch einer bekommt sogar eine Geschichte angedichtet.

Mutter und Tochter registrieren sofort, wenn jemand – unwissend der Beobachtung – zweimal oder öfter an ihnen vorüber schlendert oder eilt: „Der hat wohl was vergessen!“ – „Schon wieder zurück?“ Autofahrer, die an der Ampel stoppen müssen, würden sicher nicht in der Nase popeln oder mit verzerrter Visage winzige Essensreste aus den Zähnen puhlen, wenn sie wüssten, dass zwei Augenpaare peinlich genau auf ihnen ruhen. Es würde sich wohl auch kaum einer trauen, noch schnell bei Rot über die Kreuzung zu preschen. „Mann, der hätte die Omi beinahe voll erwischt!“ Die war nämlich gerade noch mit Hilfe ihres Rollators gemächlich und ein paar Meter neben dem Fußgängerüberweg über die Kreuzung geschlurft. „Glück gehabt!“

Die Mittagszeit schleicht heran. Die Kaffeetassen sind leer, die Kuchenteller auch. Den beiden neugierigen Damen geht langsam der Gesprächsstoff aus, und sie beschließen, den Heimweg anzutreten. Nächste Woche kommen sie aber mit absoluter Zuverlässigkeit wieder! Und für Daheim nehmen sie noch ein paar von den verführerischen Puddingteilchen sowie den zuckrigen Rosinenschneckchen mit. Lecker!

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